Garnelen, die in der Rolle von Menschen auftreten
SZENENWECHSEL
Zeitgenössische Kunst im Museum Kunst der Westküste 2009-2014
Herausgegeben von Thorsten Sadowsky
© 2013 Museum Kunst der Westküste, Alkersum/Föhr, Deutschland, und die Autoren
Vorwort (Auszug)
Der dritte Szenenwechsel (2013) steht unter dem Motto Modelle und Geschichten und präsentiert Werke von Walter Martin & Paloma Muñoz, Rupprecht Matthies, Isabella Rosselini und der niederländischen Künstlergruppe Hotel Modern. Gezeigt werden im Liebesrausch versunkene Meerestiere, fragile Schneekugeln mit morbiden Märchenbilder und ein Seelenverkäufer auf hoher See sowie Wortbilder mit Lokalkolorit und Garnelen, die in der Rolle von Menschen auftreten. Die Vermischung von Mensch und Tier im Rollenspiel und das lustvolle Basteln von Kulissen und spielerische Hantieren mit Puppen, Objekten, Kulissen und Begriffen verweisen auf modellhafte Aneignungen von Welt. Der gemeinsame Nenner von Modellen besteht darin, dass sie Darstellungen von Dingen sind. Modelle können auch Dinge sein, die Stellvertreter für Menschen sind. Als Modell wiederum steht der Mensch mit seinen Darbietungen ganz im Dienst der Dinge. In Architektur und Kunst tritt das Modell als Entwurf auf, von dem man auf das Wirkliche schließen kann. Als Gegenentwurf zur Wirklichkeit eingesetzt, kann es eigensinnige, subversive oder utopische Qualitäten entwickeln und eine ganz andere Geschichte erzählen.
Die vorliegende Publikation dokumentiert nicht nur die Ausstellungsreihe Szenenwechsel, sondern versammelt darüber hinaus auch sämtliche Videoprojektionen, die im Museum der Westküste von 2009 bis 2013 gezeigt worden sind.
Thorsten Sadowsky
(p 86, 87)
Hotel Modern
Snail Trails, 2002
Video, 17 min
Courtesy the artists
Das Rotterdamer Theaterkollektiv Hotel Modern besteht aus den Theater- und Performance-Künstlerinnen Arlène Hoornweg (geb. 1969) und Pauline Kalker (geb. 1968) sowie dem Bühnenbildner und Puppenspieler Herman Helle (geb. 1953). Bekannt geworden sind Hotel Modern mit tragisch-komischen Animationsfilmen, in denen gesellschaftliche Verhältnisse und menschliches Verhalten durch modellhafte Inszenierungen veranschaulicht werden.
Der Kurzfilm Snail Trails ist eine poetische Parabel über das Leben in der großen Stadt. Er erzählt im Figurentheaterformat vom Spaziergang einer alter Frau durch eine anonyme Metropole, in der Waschmaschinen als Gebäude, Garnelen als Bewohner und Bügeleisen als Fahrzeuge auftreten. Ohne Eile und festes Ziel – einer Schnecke gleich – lässt sich die Protagonistin von den Verlockungen und dem hektischen Treiben der Großstadt an Orte des Konsums, des Vergnügens und des Verkehrs leiten. Immer wieder begegnen ihr die menschengleichen Garnelen, deren stereotype und zugleich groteske Auftritte auf die Absurditäten des urbanen Lebensalltags verweisen. In ihre absichtslosen Navigation erinnert die ergraute Dame an die Passante, das weibliche Pendant zur literarischen Flaneur-Figur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Während aber der dandyhafte Flaneur sich am Bild des Städtischen ergötzte, gelingt es ihr, den Zumutungen des urbanen Raums zu entkommen.