„Kamp“: NS-Horror aus der Vogelperspektive
Für den Live-Animationsfilm „Kamp“ bringen Hotel Modern die Hölle von Auschwitz auf die Festwochen-Bühne – in Form eines Miniaturmodells des Lagerkomplexes. Eine Verkleinerung, die den Horror nicht verharmlost, wie die Wien-Premiere am Freitag im Wiener Museums Quartier zeigte. Sie macht die industrielle Menschenvernichtung der Nationalsozialisten auf eindrückliche Weise fassbar, und zwar aus der Vogelperspektive. Das Publikum blickt von der Tribüne hinunter auf das größte Vernichtungslager der Nationalsozialisten, Auschwitz-Birkenau. Die Baracken, die Nazi-Quartiere, die Gaskammern, die Krematorien, die Haltestelle für die Züge – all das hat das Rotterdamer Theater- und Performancekollektive Hotel Modern akribisch nachgebaut. Mehr als eine Million Menschen wurden in Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet. Mit mehr als 3.500 Figurinen stellen die niederländischen Künstler diesen industriellen Massenmord nach. Eine kleine Kamera filmt die Geschehnisse, die auf die Rückwand der Bühne projiziert werden.
Anatomie der Massenvernichtung
Der Tag im Lager scheint wie jeder andere zu beginnen. Die KZ-Häftlinge werden gezwungen, ein neues Gebäude zu errichten. Der große Schornstein, der bereits aufgerichtet wurde, zeigt, dass es sich um ein weiteres Krematorium handelt. Bei der Arbeit werden die Lagerinsassen von bewaffneten Nationalsozialisten überwacht. Wer nicht funktioniert, wird kurzerhand totgeprügelt. Dabei wird kein Wort gesprochen, es gibt auch keine Untertitel. Der Live-Animationsfilm arbeitet nur mit einer Geräuschkulisse und Musik. Die industrielle Dimension der Menschenvernichtung, die Hotel Modern in den Mittelpunkt ihrer Performance stellen, wird schnell deutlich, als das erste Mal ein Zug in der Mitte der Bühne ankommt und Hunderte Menschen entladen werden. Die Szene wechselt direkt in die Gaskammern, wo eine Puppe im Schutzanzug Zyklon-B aus einer Miniaturmetalldose in die entsprechende Vorrichtung schüttet. Hunderte Figurinen werden in die Gaskammer geschoben und die Türe geschlossen. Ein SS-Offizier beobachtet die Ermordung durch ein Guckloch in der Wand.
Von Fassungslosigkeit bis Horror
Drei Performer – Hermann Helle, Arlène Hoornweg und Pauline Kalker – bewegen die Tausenden fingergroßen Puppen durch den Lagerkomplex und verfolgen sie mit der Kamera. Die Körper der Figurinen bestehen aus Draht, der mit gestreiftem Stoff bespannt ist. Ihre Köpfe sind kleine Lehmkugeln mit zwei eingedrückten Löchern als Augen und einer geschnitten Linie als Mund.
Obwohl die Gesichter der Puppen statisch sind, scheinen sie etwas auszudrücken und sich zu verändern: Bei ihrer Ankunft im Lager meint man Fassungslosigkeit zu erkennen, bei ihrer Ermordung den blanken Horror in den Gesichtern zu sehen. Besonders eindrücklich ist eine Szenenfolge, bei der zunächst der Besitz der Lagerinsassen gezeigt wird: Die kleine Kamera filmt geöffnete Koffer. Kinderspielzeug, Hausrat, Kleidung oder eine Menora sind achtlos auf den Boden geworfen. KZ-Häftlinge müssen die Sachen in einem Depot verstauen. Das nächste Bild zeigt das Krematorium, in dem die Häftlinge die Ermordeten verbrennen müssen. Ein Dutzend Schächte sind rund um die Uhr in Betrieb. Nächste Szene: Betrunkene Nazi-Offiziere schunkeln zu deutschtümelnden Kameradengesängen.
Familiengeschichte als Ausgangspunkt
Das Konzept zu „Kamp“ kommt von einem der Mitglieder von Hotel Modern, der Künstlerin Pauline Kalker, deren Großvater in Auschwitz ermordet wurde. Als die Nationalsozialisten im Mai 1940 in den Niederlanden einmarschierten, musste er sich als Jude verstecken. Einige Monate später wurde er dennoch gefasst, gefoltert und nach Auschwitz deportiert, wo er kurz darauf starb. Kalker hat ihren Großvater nie kennengelernt und wollte ihm, wie sie sagt, durch die Performance näherkommen. Acht Monate lang haben Hotel Modern und eigens dafür angeheuerte bildende Künstler an dem beinahe exakten Modell des Lagerkomplexes und den Puppen gearbeitet. Während der Performance bewegen sich die Spielerinnen und Spieler durch die Anlage, die auf der etwa 120 Quadratmeter großen Bühnen Platz findet. Ohne echte Handlung oder Dialoge werden die Geschehnisse in Schwarz-Weiß auf die Leinwand projiziert. Dabei leuchtet der Schriftzug „Arbeit macht frei“ ständig auf dem Miniaturtor zur Todesfabrik und im Augenwinkel der Zuschauer.
Auf Distanz zum Grauen
Nach dem Ende der Performance ist das Publikum eingeladen, sich die Bühne aus der Nähe anzusehen und Fragen zu stellen. Kalker erzählte, dass das Stück nach wie vor in sehr vielen Ländern gezeigt werde, es aber nicht überall gleich gut aufgenommen werde. Es habe viel mit dem geschichtlichen Vorwissen zu tun, ob sich die Zuschauerinnen und Zuschauer auf das Gezeigte einlassen könnten oder nicht. Erst vor Kurzem habe die Performancegruppe diese Erfahrung mit Schulklassen in Ungarn gemacht, die nichts von der Geschichte des Holocaust zu wissen schienen. Sie hätten hauptsächlich Fotos von den Gaskammern machen wollen, um sie auf Facebook zu stellen, so die Künstlerin. Kalker und ihre Kollegen wollen mit „Kamp“ die absolute Entmenschlichung des NS-Vernichtungssystems zeigen. Deswegen habe man sich auch dazu entschlossen, keine Geschichte im engeren Sinn zu erzählen. Individuelles Leiden wird von Hotel Modern nicht in den Vordergrund gestellt, man zwingt die Zuschauer eher in die Distanz. Verstörend ist das Stück dennoch. Die Performer wollen, dass die Opfer und Täter trotz aller Verkleinerung als Menschen erkennbar bleiben. Das gelingt ihnen.
19-5-2018