Wagners Epos im Käferformat
Siegfried ist ein Käfer – ein goldener immerhin. Der Held der Geschichte hebt sich also durchaus ab von all den Raupen, Faltern, Käfern und Ameisen, in deren Welt die Holländische Truppe Hotel Modern mit Unterstützung des Niederländischen Bläsersensembles Richard Wagners ‘Ring der Nibelungen’ versetzt. Nicht nur Figuren und Schauplätze des bis zum 16 Stunden dauernden Epos’ schrumpfen die innovativen Künstler; auch Wagners Komposition dampfen sieordentlich ein: Als Der Ring in 90 Minuten brachten die Bregenzer Festspiele den ursprünglich vierteiligen Opernzyklus aud die Bühne. Er war am beiden Abenden ausverkäuft.
‘Der Ring’ spielt also im Reich der Insekten. Warum auch nicht? Herman Helle von Hotel Modern ist der Meinung, die Figuren der Nibelungen-Sage seien nicht weniger bösartig als Insekten. Auch sie kämfen um Macht und Herrschaft und scheuen vor grausamer Vernichtung nicht zurück. Und wie das Personal aus Wagners Welterklärungs-Mythos sind als den ewigen Kreisläufen unterworfen; sie paaren sich, gebären, sterben; sie fressen und sie werden gefressen.
Schön bei den Aufführungen der Rossini-Oper Moses in Ägypten im Festspielhaus schufen die Künstler von Hotel Modern mit ihrem mit Live-Kameras auf riesige Flächen projizierten Puppenspiel beeindruckende Szenerien. Für den ‘Ring’ kreierten sie das Ganze: dachten sich Alberich als Käfer aus, die Rheintöchter als Quallen – in einem kleinen Aquarium stoßen sie auf einander. Raffiniert beleuchtet und gefilmt erscheint das Bassin als grenzenloses Unterwasserreich auf der Leinwand über den Köpfen der Musiker. Hotel Modern macht sich einen Effekt zunutze, den Kinder beim Spiel in der Natur erleben, wenn sie sich etwa in einer hohe Wiese legen und die Gräser von unten auf einmal als wurchende Bäumein in einem riesigen Urwald erkennen.
Fantasie und die Fähigkeit zu staunen ist für solche Entdeckungen nötig. Hotel Modern pflegt beides mit Leidenschaft. Die Rotterdamer erschaffen Miniatur-Landschaften und bevölkern sie mit frappierend detailreich nachgebauten Bewohnern. In Faltern mit schillernden Flügeln, mühsam kriechenden Raupen, sich paarenden Gottesanbeterinnen und aus einem Vogelkadaver kriechenden Maden treiben sie die Kunst des Puppenbaus und Puppenspiels auf die Spitze. Wissend, dass es sich hier keineswegs um einen biologischen Lehrfilm handelt, lassen sich die Zuseher von ihren grandiosen Bildern verzaubern.
Ringraub, Hinterbalt, Zweikampf, Schlacht und Mord: Zu spannenden Dramen werden die Spielszenen erst durch die Musik – die in dieser Ring-Version ohne Gesang auskommt. Den tanz der Quallen begleitet eine weiche absteigende Tonfölge – sie erzählt von einer ruhigen, stabilen Welt. Diese gerät mit den Heben des Rings vom Grund des Rheins aus den Fugen. Was dann geschieht, klingt mal so farbenreich wie Schmetterlingsflügel, dann so brutal wie die mordlustige Tarantel, einmal so ernstig wie ein Ameisenvolk und schließlich so majestätisch wie Libellen.
Auch die 21 Musikerinnen und Musiker des Niederländischen Bläserensembles übernehmen bei ihrer Wagner-Interpretation die staunende Perspektive des Puppenspiels. Sie breiten vergnügt jede Harmonie, jeden Rhythmus und jede Stimmung ganz weit aus und lassen sich im drängenden Musizieren auch dann nicht bremsen, wenn eine Ameise auf ihrem Weg von einem Vivarium zum anderen quer durch Orchester krabbelt: erst die Flöte, entlang, von dort über die Oboe, dann auf den Zug der Posaune, um sich vom Mundstück aus auf den Schopf des Musikers zu hangeln.
Die Frage, ob dieser Ring Wagner ganz ernst nimmt, beantwortet sich spätestens in diesem Moment. Zwischen Spannung und Leichtigkeit changierend, dient der Ring-Mythos hier als ideale Schablone für prächtiges Puppenspiel. Zusammen mit der opulenten Partitur ist der Instant-Ring ein reicher Sinnesgenuss.
1-8-2017